Allein oder Einsam?
Ist es immer schädlich, wenn ich allein bin? Ist Alleinsein überhaut identisch mit Einsamkeit? Dazu möchte ich hier drei Begriffe unterschieden:
Alleinsein ist ein freiwilliger Rückzug aus der Gemeinschaft. Prinzipiell hat man die Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu kommen, aber man hat sich dazu entschlossen, allein zu sein. Es ist also etwas Positives und Gewolltes. So ziehen sich manche z. B. für eine Zeitlang in ein Kloster zurück oder gönnen sich eine Auszeit, um neue Kraft zu tanken. Dietrich Bonhoeffer fasst diese Wechselseitigkeit folgendermaßen zusammen: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft ... und wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.“
Einsamkeit dagegen ist ein unfreiwilliger Zustand. Die Sozialwissenschaften verstehen darunter ein negatives Gefühl, das aus einem Mangel an positiven authentischen Bindungen resultiert. Gefühle von Einsamkeit stellen sich also bei einer Kluft zwischen gewünschten und tatsächlichen emotional bedeutungsvollen Beziehungen ein. Man kann sich z. B. allein an einem einsam gelegenen Ort in der Natur aufhalten, ohne sich einsam zu fühlen. Umgekehrt kann man sich einsam fühlen, obwohl man von Menschen umgeben ist oder zahlreiche Bekanntschaften hat. Einsamkeit ist daher ein subjektives Gefühl. Allerdings fühlt sich jeder von Zeit zu Zeit einsam – dies ist ein normales Gefühl im bunten Strauß unserer Lebensemotionen. Schädlich wird Einsamkeit, wenn sie zur chronischen Einsamkeit wird.
Soziale Isolation ist das Fehlen von ausreichenden sozialen Kontakten. Sie liegt vor, wenn man über eine längere Zeitspanne selten Menschen trifft, zu denen man eine Beziehung hat. Soziale Isolation bedeutet also ein langandauerndes, intensives Alleinsein. Um den Unterschied zu Einsamkeit zu verdeutlichen möchte ich ein Bild gebrauchen: Soziale Isolation wäre demnach das Fehlen von Nahrung (keine ausreichende Möglichkeit zu sozialen Kontakten) und das Gefühl von Einsamkeit wäre das Hungergefühl (»Hunger« nach sozialen Anschluss, Beziehungen, Verbundenheit). Wie naheliegend dieses Bild ist, zeigt sich auch daran, dass bei Einsamkeit ähnliche Gehirnregionen aktiv sind wie bei körperlichem Hungergefühl (Inagaki et al. 2016). So tief verankert ist also das »Bedürfnis« nach Gemeinschaft.